Zurückhaltende Menschen haben in der heutigen Arbeitswelt, die Selbstdarsteller und Schwätzer belohnt, einen schweren Stand. Die Zeit ist reif für ein Umdenken.
Von Manuela Specker
Es kostet ihn Überwindung, spontan vor vielen Leuten zu sprechen. Lieber möchte er seine Gedanken sammeln, bevor er sich äussert. An Sitzungen fällt er nicht als rascher Wortmelder auf, da er zuerst alle möglichen Varianten im Kopf durchgehen will. Andere sind deshalb schneller. Aber keinesfalls substanzieller, im Gegenteil. Während des Jahresendgesprächs kriegt dieser Prototyp eines introvertierten Mitarbeiters dann zu hören, er sei zu empfindlich, müsse etwas mehr aus sich heraus kommen und sich besser verkaufen.
Ein Arbeitsleben lang wird zurückhaltenden Menschen eingetrichtert, dass der Fehler bei ihnen liegt, während Unternehmen reihenweise auf Selbstdarsteller und Schwätzer reinfallen. Diesen eklatanten Widerspruch arbeitet der Karrierecoach und Autor Martin Wehrle in seinem neuen Buch „Der Klügere denkt nach“ heraus. Er macht eine klare Ansage: Nicht die introvertierten Menschen sind das Problem, sondern die Massstäbe, an denen sie gemessen werden.
Um aus dieser Spirale herauszufinden, müssen Introvertierte aber genauso umdenken. „Oft lassen sich zurückhaltende Menschen von lauten Tönen einschüchtern: Sie unterschätzen sich – und überschätzen die anderen“, so Wehrle. Er zeigt verschiedene Strategien auf, wie sich Introvertierte mehr Gehör verschaffen, ohne sich eine andere Haut zulegen zu müssen.
Um beim Beispiel der Sitzungen zu bleiben: Anstatt sich selber Vorwürfe zu machen, zu schüchtern und zu langsam zu sein, um die eigenen Ideen in grosser Runde einzubringen, rät Wehrle, eine andere Haltung einzunehmen und das Vorgehen zu ändern. Konkret: Sich der Fähigkeit bewusst werden, die Gruppendiskussionen vom Feldherrenhügel verfolgen zu können und Denkfehler der anderen zu erkennen anstatt sich im rhetorischen Getümmel zu verlieren. Die eigenen Erkenntnisse können dann laut Wehrle auch nachträglich eingebracht werden, beispielsweise durch eine Rundmail.
Oder warum das feine Gespür nicht nutzen, um sich rechtzeitig auf Veränderungen einzustellen, die Introvertierte oft früher erahnen? Oder sich beim Small-Talk, Horror für viele Introvertierte, darauf konzentrieren, gut zuhören zu können anstatt sich damit zu stressen, das Richtige sagen zu müssen? Martin Wehrle macht Mut, die eigene Empfindsamkeit nicht als Defizit zu sehen, sondern als Bereicherung. Auch Firmen wären gut beraten, wenn sie wieder mehr auf die reflektierten, allumfassend denkenden Mitarbeitenden hören würden anstatt den Selbstdarstellern immer mehr Macht zu verleihen. Denen geht es in der Regel nicht einmal um das Wohl der Firma, sondern darum, selber am besten dazustehen.
Martin Wehrle bringt in seinem Buch glasklar auf den Punkt, weshalb so viele Firmen auf Selbstdarsteller und Grossmäuler reinfallen und wir in einer Lärmgesellschaft leben. Eine Voraussetzung dafür ist nämlich die Entwicklung hin zur Dienstleistungsgesellschaft. „Seither werden Produkte verkauft, die unsichtbar sind: Beratung, Service und Projektarbeit“, so Wehrle. Das öffnet Blendern Tür und Tor. „Plötzlich war eine Disziplin gefragt, die bis dahin kaum eine Rolle spielte: schnelles Eindruck-Schinden.“
Ein Handwerker wie ein Schreiner zum Beispiel kann seine schräge Tischplatte nicht geradereden. Bei Leistungen, die sich nicht an einem konkreten Produkt messen lassen, ist es bekanntlich anders. Da kommt es nicht mehr darauf an, was einer ist, sondern wie er sich präsentiert. Das beeinflusst auch das Selbstbild der Zurückhaltenden: Stille Menschen nehmen sich vermehrt als schüchtern wahr und Bescheidene als schlechte Selbstverkäufer.
Martin Wehrles Buch ist ein Plädoyer gegen die Kultur der Selbstdarstellung und gibt den stillen Schaffern zahlreiche Hinweise, wie sie vermehrt das Zepter übernehmen und Grossmäuler entlarven, anstatt ihnen das Feld zu überlassen. „Menschen, die wenig Lärm um sich machen, sind oft die wahren Leistungsträger. Sie befassen sich mit ihren Aufgaben statt mit dem Dichten von Lobeshymnen auf sich selbst“, so Wehrle. Er ist überzeugt, dass der Faktor Zeit jenen Menschen in die Hände spielt, die Resultate liefern statt heisse Luft produzieren. „Zurückhaltende Menschen hinterlassen keine verbrannte Erde, die im Internet auf alle Zeiten vor sich hindampft. Und sie haben einen guten Leumund: Wer Menschen anspricht, die ihren Weg gekreuzt haben, hört meist Gutes.“
((Buchhinweis)): Martin Wehrle: Der Klügere denkt nach. Von der Kunst, auf die ruhige Art erfolgreich zu sein. Mosaik Verlag, 2017.
Bildquelle: Thinkstock