Wer die Branche wechseln oder in einen Beruf einsteigen möchte, steht vor grossen Hürden.
Es ist dies eines der grössten Missverständnisse, welches die neue Arbeitswelt im Zeitalter der Digitalisierung bereithält: dass Lebensläufe, die nicht linear sind, heute keinen Nachteil mehr darstellen, sondern für Flexibilität und Offenheit stehen. In Tat und Wahrheit wollen die meisten Unternehmen noch immer auf Nummer sicher gehen. In Fachkreisen ist vom sogenannten „Zero-Gap“-Verhalten die Rede: Damit sind Arbeitgeber gemeint, die bei der Rekrutierung akribisch an ihrem formulierten Wunschprofil festhalten – wer nicht ins vorgegebene Raster passt, hat keine Chance. Eine Befragung des Outplacement-Spezialisten Rundstedt unter mehr als 1500 Personen bestätigt, dass Branchenwechsel schwierig sind und nur einem kleinen Teil gelingen.
82 Prozent stimmten der Aussage zu, wonach der Anspruch der Arbeitgeber auf perfekte Profile die Stellensuche erschwert. 64 Prozent haben den Eindruck, dass die Chancen für Quereinsteigende immer kleiner werden, und 68 Prozent betonen, dass Branchenerfahrung bei der Stellenbesetzung eine grosse Rolle spielt. Das ist vor allem dann fatal, wenn Arbeitnehmende aufgrund struktureller Umwälzungen am Arbeitsmarkt gezwungen sind, sich neu orientieren zu müssen. So kommt die Untersuchung unter anderem zum Schluss, dass der Quereinstieg für Bewerberinnen und Bewerber aufgrund des Zero-Gap-Verhaltens und aufgrund grosser Branchengläubigkeit seitens der Arbeitgeber schwierig sei.
Unternehmen stellen lieber ein statt auszubilden
Mittlerweile muss ein Bewerber bereits bei der ersten Vorselektion mindestens 80 Prozent der Kriterien erfüllen, damit er überhaupt als potenzieller Kandidat in Betracht gezogen wird – es sei denn, es herrsche Fachkräftemangel, dann sind auch Unternehmen gezwungen, ihre Kriterien aufzuweichen, um die Stelle besetzen zu können. Unternehmen stellen lieber Mitarbeitende ein, die bereits alles mitbringen, statt dass ihnen Gelegenheit gegeben wird sich, gewisse Kompetenzen zu erwerben oder zu vertiefen. Diese Entwicklungen decken sich mit der Beobachtung des Bildungsforschers Stefan Wolter, Professor an der Universität Bern: Firmen hätten kaum Interesse daran, Mitarbeitende auf allen Stufen zu fördern – stattdessen kommen die bereits gut ausgebildeten Angestellten zum Zug.
Auch deshalb haben Niedrigqualifizierte einen schweren Stand auf dem Arbeitsmarkt: Nicht nur, weil es zunehmend an entsprechenden Jobs mangelt, sondern auch, weil sie die Chance auf eine Weiterentwicklung innerhalb eines Unternehmens gar nicht erhalten. Und das wiederum weist auf die veränderten Bedingungen in der Arbeitswelt hin, in der es auf Effizienz und Schnelligkeit ankommt – und nicht unbedingt auf langfristige Investitionen in das Personal.
Jung sein ist nicht immer ein Vorteil
Auch Berufsanfängerinnen und -anfänger kriegen diese Entwicklungen zu spüren. Manche finden nach der obligatorischen Schulzeit deshalb keine Lehrstelle, weil Unternehmen zunehmend dazu neigen, ältere Bewerbende vorzuziehen. Konkret: Solche, die beispielsweise ein Zwischenjahr eingeschaltet oder ein Brückenangebot absolviert haben – oder die bereits eine Lehre in einem anderen Bereich begonnen und sie wieder abgebrochen haben und nun, erfahrener und älter, nochmals eine Lehre absolvieren wollen. Hinter dieser Rekrutierungsstrategie steckt die Annahme, dass mehr Lebenserfahrung und eine gewisse Reife auch der eigenen Arbeitsweise zugutekommt, während jungen Menschen direkt ab Schule nicht unbedingt zugetraut wird, ohne weiteres im Arbeitsleben zu bestehen. Jung sein ist in der Arbeitswelt also bei weitem nicht immer ein Vorteil.