Wer über eine gesunde Portion Selbstverliebtheit verfügt, ist oft auch beruflich erfolgreich. Die Grenze zur narzisstischen Störung ist allerdings fliessend.
Der Spruch „Gott verzeiht, aber ein Narzisst nie“ zeigt an, worauf Narzissmus zielt. Es geht nicht nur um Anerkennung, sondern um Bewunderung und oft blinde Gefolgschaft. Narzissten suchen sich gewöhnlich etwas schwächere Menschen aus, auch als Chefs. Alles muss eine Nummer kleiner sein als sie selbst – kaum umgeben sie sich mit Menschen, die sie enttarnen können.
Ein Narzisst muss sich erst einmal seine Position aufbauen, deshalb kann er charmant und enorm leistungsgetrieben sein. Nebenwirkung: Narzissmus macht auch erfolgreich. Wie narzisstisch bin ich eigentlich selbst? Das Internet hat Selbstmarketing und -darstellung sehr vereinfacht. Folglich nimmt dieses narzisstische Verhalten auf allen Ebenen zu. Die fehlende Differenzierung in dieser Thematik führt aber oft zu Missverständnissen: Narzissmus ist ein gesellschaftliches und soziales Phänomen, eine gruppenspezifische Verhaltenstendenz, eine individuelle Persönlichkeitstendenz und dann erst eine Persönlichkeitsstörung.
Viele Internetartikel raten, sofort die Beine in die Hand zu nehmen, wenn man es im Beruf mit einem Narzissten zu tun hat. Wenn es aber gar nicht um bösartigen Narzissmus geht, sich ein Mensch in einer bestimmten Situation nur so verhält, ist diese Empfehlung jedoch unter Umständen falsch. Was kennzeichnet denn Narzissmus als Persönlichkeitsstörung? Von Internet-Tests ist abzuraten, sie sind wie Internet-IQ-Tests: willkürlich erstellt, verfolgen sie keine klaren Konstrukte und sind nicht sehr valide. Die meisten Internettests zielen auf die narzisstische Persönlichkeitstendenz, ohne darauf eindeutig hinzuweisen.
Geht es um eine Störung, so muss erst einmal bestimmt sein, dass überhaupt eine Persönlichkeitsstörung vorliegt. Dafür geben die Diagnoseschemata der DCM-5 – einer Art Psychiater-Bibel, die vor allem in den USA verwendet wird – und der ICD-10 (international) Anhaltspunkte. In der DCM-5 steht, dass eine Störung ein überdauerndes Muster sein muss, das sich im Bereich Kognition (Wahrnehmung) und Affektivität (emotionale Reaktionen) zeigt. In der DCM 5 ist die narzisstische Persönlichkeitsstörung als Kategorie angelegt:
Bin ich ein Narzisst mit einer Störung? An diesem Punkt dürften die meisten eine gewisse Erleichterung verspüren, weil eine Persönlichkeitsstörung ausgeschlossen werden kann. Was bleibt ist die Persönlichkeitstendenz oder eben ein zeitweise narzisstisches Verhalten, das Berufskrankheit sein kann. Führungskräfte brauchen sogar einen gewissen narzisstischen Anteil, sonst würden sie gar nicht weiterkommen. Überall wo sehr viel von Wertschätzung die Rede ist und Augenhöhe, ist übrigens ebenfalls jede Menge Narzissmus im Spiel. Aber eben auch positiver. Narzissmus ist nicht nur schlecht und böse, er hat auch viele gute Seiten: er begünstigt Kreativität, Schaffenskraft und (positiven) Wettbewerb. In seiner zerstörerischen Form allerdings wird er unangenehm, und zwar auch ohne dass ein Störungsbild nach DCM vorliegt: Da erzeugt er Kränkung, Eifersucht, Hass, Streit bis hin zu Verbrechen und Krieg. Er ist ein Kompensationsversuch von auf den ersten Blick nicht erkennbaren Minderwertigkeitskomplexen und erzeugt Kritikempfindlichkeit und rücksichtsloses Verhalten.
Erkennbar ist negativer Narzissmus als Persönlichkeitstendenz und möglicherweise Vorstufe zu einer Störung an den vier großen „E“: Egozentrizität, Empfindlichkeit, Empathiemangel, Entwertung. Gerade Egozentrik ist ein weiter Begriff. Menschen mit grosser persönlicher Unabhängigkeit sind vielleicht exzentrisch in ihrer Wirkung. Sie tun es aber nicht für das Aussen, sind nicht unbedingt egozentrisch im Denken (kreisen also nur um sich selbst), sondern vielleicht nur ein wenig egoistisch. Die Aussenorientierung macht einen grossen Unterschied. Entwertung ist der entscheidendste und einfachste Punkt für eine Grenzziehung. Ein egozentrischer, also auf sich bezogener Mensch, muss nicht automatisch auch entwerten. Wer aber entwertet, ist ganz sicher kein guter Chef, kein guter Coach und als Vater, Mutter und Ehepartner eine Qual. Je mehr „E“ in dieser feineren Definition zusammenkommen, desto mehr spricht für einen negativen Narzissmus. Kommt das Thema „Entwertung“ dazu, ist der Weg zum bösartigen Narzissmus nicht weit. Wer bis hierhin vorgedrungen bist und immer noch Zweifel hat, ob er selbst ein Narzisst bist, kann aufatmen: Bösartige Narzissten hätten längst aufgehört zu lesen. Sie meiden Selbstreflexion.
*Svenja Hofert ist Karriere- und Managementberaterin. Sie ist Autorin von mehr als 30 Büchern (u.a. „Agiler führen“). www.svenja-hofert.de