Arbeitszeugnisse stiften heute mehr Verwirrung, als dass sie nützen. Ein Personalexperte fordert deshalb: weg mit diesem Instrument.
Von Jörg Buckmann*
Die Arbeitswelt dreht sich schnell. In den letzten Jahren wurden Berufsbilder, Arbeitsmethoden und auch Konventionen regelrecht umgepflügt. Doch es gibt Themen, an denen gehen Digitalisierung, Industrie 4.0 und Co. völlig unbeschadet vorbei. Die Arbeitszeugnisse sind eines davon.
Die Geschichte der Arbeitszeugnisse geht bis ins 16. Jahrhundert zurück. Damals wurden «Atteste für ordnungsgemässes Ausscheiden» ausgestellt. Sie dienten dem Schutz der Arbeitgeber vor schlechten Mitarbeitern. Heute steht eher der Nutzen für die Mitarbeitenden im Vordergrund. Eigentlich. Denn die Arbeitszeugnisse sind zu einem schlechten Scherz mutiert. Eine ganze Industrie hängt inzwischen am Tropf dieses 100 Millionen Franken schweren Arbeitsbeschaffungsprogramms.
In der Schweiz wechseln jedes Jahr rund 11 Prozent der 5 Millionen Arbeitnehmenden ihren Job. Macht schon einmal eine halbe Million Arbeitszeugnisse, zusammen mit den Zwischenzeugnissen dürften in der Schweiz rund eine Million Arbeitszeugnisse pro Jahr erstellt werden. Bei einem geschätzten Aufwand von einer Stunde pro Zeugnis heisst das letztlich, dass bis zu 600 Menschen ausschliesslich damit beschäftigt sind, Zeugnisse von oft zweifelhaftem Wert auszustellen. Diese beschäftigen in der Folge auch Anwälte, Rechtsschutzversicherungen, Auskunftsstellen bei Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, Gerichte, Weiterbildungsinstitutionen, Buchverlage und vieles mehr: Summa summarum sprechen wir hier von einem 100 Millionen Franken Absurdum.
Eigentlich wäre es ja eine feine Sache: Ein Papier bringt schwarz auf weiss die Talente der Stellensuchenden auf den Punkt. Diese Transparenz hilft Firmen und Mitarbeitenden, die Stellen passend zu besetzen. Soviel zur Theorie. In der Realität sind irgendwie alle unzufrieden. Arbeitnehmer wittern hinter den salbungsvollen Worten in ihrem Zeugnis Ungutes. Geschürt von den gutgemeinten Tipps in unzähligen Ratgebern (Orell Füssli allein listet 78 Ratgeber!) und den Geschichten aus dem Kollegenkreis wird jeder Satz mit einer grossen Portion Misstrauen auf den Prüfstand gestellt. Effektive oder vermeintliche Codes werden aufgedeckt und reklamiert.
Absurderweise werden gleichzeitig auch Codes eingefordert – so zum Beispiel das Bedauern im Schlusssatz. Dieses muss natürlich möglichst gross sein, erst dann ist ein Zeugnis ein gutes Zeugnis. Meinen zumindest viele Arbeitnehmende – und unglücklicherweise auch viele Entscheider in den Unternehmen. Ein Mythos. Ein Zeugnis muss Aussagen zur Art und Dauer des Arbeitsverhältnisses machen und zur Leistung und dem Verhalten. Vom Ausmass der Trauer über das Ausscheiden des Arbeitnehmers ist im Obligationenrecht nicht die Rede. Der Schlusssatz ist reine Folklore.
Weil nicht nur Angestellte, sondern auch viele Führungskräfte und Personaler längst den Überblick verloren haben, ist die Verwirrung komplett. Da wird interpretiert, was das Zeug hält. Dummerweise auch dort, wo es nichts zu interpretieren gibt. Würde der an sich unverdächtige Satz «Die Leistungen von Frau Huber entsprachen unseren Erwartungen» von zehn Personalverantwortlichen bewertet, würde darin die Mehrheit eine negative Einschätzung herauslesen. Doch das ist geradezu absurd: Was gibt es daran zu mäkeln, wenn Mitarbeitende die Erwartungen der Unternehmen erfüllen?
Der Aufwand für das Erstellen von Arbeitszeugnissen ist riesig und wird durch das gegenseitige Misstrauen immer grösser. Unterstützt von unzähligen Ratgebern pochen viele Mitarbeitende auf ihr vermeintliches Recht auf ein in jedem Fall gutes Arbeitszeugnis – wenn nötig auch vor Arbeitsgericht. Diesen Aufwand scheuen Arbeitgeber und spülen darum die Zeugnisse weich. Und zur Prozesskostenoptimierung werden elektronische Assistenten in Form von «Zeugnisgeneratoren» verwendet, oder die Arbeit wird grad ganz nach Breslau, Bratislava oder nach Bangalore outgesourct. Die Arbeitszeugnisse sind zu Potemkinschen Dörfern mutiert – alles nur Fassade. So modert das Thema seit Jahren vor sich hin. Höchste Zeit, endlich frische Luft reinzulassen.
Das Arbeitszeugnis gehört in seiner heutigen Form abgeschafft und mit ihm die rechtlichen Barrieren im OR. Künftig sollte ein Arbeitgeber lediglich noch die Dauer der Beschäftigung und allenfalls noch die Tätigkeit bescheinigen müssen. Diese Informationen könnten im Idealfall in einer bereits bestehenden Datenbank erfasst werden, auf welche der Arbeitnehmer Zugang hat und er dem künftigen Arbeitgeber mit einem Link Einblick in sein individuelles Arbeitskonto geben könnte. Das reicht völlig aus. Eine interessante Alternative könnten auch weniger formelle Empfehlungsschreiben ohne rechtlichen Anspruch sein, wie sie in anderen Ländern üblich sind.
* Jörg Buckmann ist Geschäftsführer der auf Personalmarketing und HR-Kommunikation spezialisierten Buckmann Gewinnt GmbH in Zürich. Von 2007 bis 2015 war er Personalchef der Verkehrsbetriebe Zürich.
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