Gefährliches Hirndoping
Veröffentlicht am 03.03.2020 von Manuela Specker - Bildquelle: GettyImages
Ritalin und Co. als Wachmacher im Job und in der Ausbildung: Nebenwirkungen werden unterschätzt.
Müde und unkonzentriert? Um den Anforderungen in Schule oder Beruf gerecht zu werden, greifen manche zu leistungsfördernden Substanzen wie Ritalin oder Modafinil. Ritalin soll eigentlich ADHS-Betroffenen helfen, ruhiger zu sein und sich besser zu konzentrieren. Modafinil wiederum wird bei Narkolepsie-Patienten eingesetzt, weil es das zentrale Nervensystem stimuliert, ohne den Nachtschlaf zu beeinträchtigen. Das Problem: Beide Medikamente werden zusehends zweckentfremdet und von Personen eingenommen, die weder unter ADHS noch unter Narkolepsie leiden. Bei ihnen haben die Pillen einen Wachmacher-Effekt und fördern die Konzentration und die Leistungsfähigkeit.
Die Medikamente sind zwar nur auf Rezept erhältlich, aber der illegale Schwarzmarkt floriert – sei es über Patientinnen und Patienten, die das verschriebene Medikament an andere verkaufen, oder über das Internet. Ein Vergleich der Daten des Global Drug Survey aus den Jahren 2015 und 2017 zeigt, dass sich die missbräuchliche Verwendung von sogenannten Neuro-Enhancern fast verdreifacht hat – von 4.9 auf 13,7 Prozent. An dieser anonymen Befragung nahmen insgesamt mehr als 100 000 Menschen aus 15 Industrieländern teil.
Die anonyme Online-Umfrage ist nicht repräsentativ, zeigt aber einen klaren Trend. Zwischen den einzelnen Ländern bestehen grosse Unterschiede: Der höchste Anteil mit fast 30 Prozent befindet sich in den USA, Europa holt kräftig auf. Forschende der University of California sehen einen Zusammenhang zwischen der Verschreibungspraxis und der missbräuchlichen Verwendung: Je häufiger ADHS-Betroffene mit Ritalin ruhiggestellt werden, desto häufiger wird das Mittel von Personen, die kein ADHS haben, als leistungsfördernde Substanz missbraucht. Für die Schweiz gibt es keine verlässlichen Zahlen. Eine Untersuchung der Krankenkasse DAK hat für Deutschland ermittelt, dass fast drei Millionen Menschen schon einmal stimulierende Medikamente genommen haben, um im Job fitter zu sein oder Stress am Arbeitsplatz auszuhalten.
Hemmschwellen sind gesunken
Die Hemmschwelle, dass gesunde Menschen verschreibungspflichtige Medikamente wie Ritalin einnehmen, ist ganz offensichtlich gesunken, im Job wie in der Ausbildung. Auslöser für den Griff zur Pille sind oft ein hoher Leistungsdruck sowie Überlastung. Bloss: Es ist kaum erforscht, welche Nebenwirkungen diese Mittel bei Gesunden haben. „Das ist ein gefährliches Selbstexperiment, die Langzeitfolgen sind kaum abzuschätzen“, warnt die Medizin-Ethikerin Davinia Talbot von der Universität Münster. Neurobiologen betonen schon lange, dass die Substanzen in den Stoffwechsel des Hirns eingreifen. Was bis heute unterschätzt wird, ist die Tatsache, dass solche leistungsfördernden Substanzen eben nicht nur wacher, konzentrierter und leistungsfähiger machen – sie verändern über kurz oder lang auch die Persönlichkeit.
Die Verschreibung von Ritalin kann auch bei Kindern heikel sein, welche die Diagnose ADHS erhalten haben. Der Neurobiologe Gerald Hüther beispielsweise kritisiert, dass die Wissenschaft sich ausschliesslich mit der Wirksamkeit von Medikamenten beschäftige und die Ursachen der Zappeligkeit ignoriere – und somit auch psycho- oder familientherapeutische Ansätze. So kann genauso gut das soziale Umfeld oder der Leistungsdruck in der Schule der Auslöser sein für die Symptome. Auch die Psychologin Lena Kornyeyeva bemängelt in ihrem Buch „Die sedierte Gesellschaft“, dass die Diagnose ADHS so unscharf eingegrenzt sei, dass viele Schülerinnen und Schüler Gefahr laufen würden, zu Unrecht für krank erklärt zu werden. Was sich für die Pharmaindustrie als Goldmine entpuppt hat, zeitigt für die Betroffenen zum Teil schwerwiegende, persönlichkeitsverändernde Folgen. Angesichts der vermehrten missbräuchlichen Verwendung bezeichnet Kornyeyeva Ritalin als „legale Modedroge“.
Pillen machen nicht kreativer
Der Selbstoptimierungswahn hat nun also auch die Hirne erfasst. Die Zunahme dieser „Modedroge“ ist so gesehen auch Ausdruck eines aus dem Ruder gelaufenen Leistungsdenkens und eines eindimensionalen Leistungsbegriffs, der mit Kreativität nicht viel am Hut hat. Eben diese Kreativität ist ein komplexer Prozess und lässt sich nicht einfach mittels Pille verbessern. Wären an Prüfungen mehr Kreativität statt Reproduktion von Wissen gefragt, hätten Medikamente wie Modafinil oder Ritalin als leistungssteigernde Mittel wohl keine Chance.