Wer von seinem Erscheinungsbild her aus dem Rahmen fällt, hat im Beruf einen schwierigen Stand.
Er ist promovierter Chemiker und kann exzellente Noten vorweisen. An Vorstellungsgesprächen trägt er Hemd und Anzug. Doch besonders weit schafft er es trotzdem nie. Er ist sich ziemlich sicher, woran es liegt: „Ich bewerbe mich in einer konventionellen Branche und habe einen eher unkonventionellen Ohrschmuck“. Konkret: An beiden Ohren trägt er geweitete Piercings. Zwar „nur“ mit etwa 20 Millimeter Durchmesser, aber augenfällig sind die so genannten „Flesh Tunnels“ trotzdem. Diese werden ihm jetzt zum Verhängnis. Bei Bewerbungsgesprächen fällt der Blick immer wieder auf diese Stelle, manchmal muss er sich unflätige Bemerkungen anhören. Zudem herrsche die Ansicht vor, so jemand könne den Kundinnen und Kunden nicht zugemutet werden.
„Im Nachhinein denke ich, dass es ein grosser Fehler war, mich bei meiner Berufswahl für eine konservative Branche zu entscheiden. Hier haben es sogar Männer mit längeren Haaren schwer.“ Die meisten würden denken, er sei DJ, Tätowierer oder allenfalls noch im Sozialbereich tätig – von einer naturwissenschaftlich-technischen Tätigkeit gehe niemand aus. Er überlegt sich nun, nochmals eine andere Ausbildung zu machen, wo er mit seinem Ohrschmuck kein Exot mehr ist. Denn das Piercing ist irreversibel.
Die Macht der Vorurteile
Äusserlichkeiten spielen noch immer eine grosse Rolle, wenn es darum geht, wie die eigenen Kompetenzen eingeschätzt werden – obwohl diese Äusserlichkeiten rein gar nichts über die eigene Arbeitsweise aussagen. Die Macht der Vorurteile hat gerade in Bewerbungsverfahren fatale Konsequenzen, weil die Betroffenen nie die Gelegenheit erhalten zu zeigen, dass vom Äusseren nicht auf die Arbeitsweise geschlossen werden darf. „Wir reagieren immer auf die körperliche Erscheinung unseres Gegenübers“, sagt die Karriere-Beraterin Svenja Hofert. Der sogenannte Halo-Effekt sorge dafür, dass wir jemandem aufgrund von attraktiver Erscheinung und Auftreten mehr zutrauen. Halo-Effekt meint konkret, dass ein bestimmtes Merkmal einer Person so stark in den Vordergrund tritt, dass andere Merkmale gar nicht mehr berücksichtigt werden.
So wurde schon mehrfach nachgewiesen, dass auffallend übergewichtige Menschen schlechter eingestuft werden. Wissenschaftler der Universität Tübingen konnten mittels eines Fotoexperiments belegen, dass die Befragten den stark übergewichtigen Menschen weniger zutrauten, prestigeträchtige Berufe und Führungspositionen auszuüben. Schlanke Menschen hingegen stehen automatisch für Dynamik und Vitalität. Dabei entspricht das nicht einmal der Realität: Aufgeteilt nach Geschlecht, ist der Anteil übergewichtiger Männer in prestigeträchtigen Berufen mehr als fünfmal und bei Frauen mehr als achtmal so hoch, als ihnen im Foto-Experiment zugetraut wurde. Ein zu hohes Körpergewicht ist eine bisher vernachlässigte Ursache für Diskriminierungen am Arbeitsplatz. Aber auch Merkmale wie der Ohrschmuck können ein Hindernis im eigenen beruflichen Fortkommen darstellen.
Konforme Pseudo-Diversity
Betroffene geraten oft in einen Teufelskreis. Die Karriereberaterin Svenja Hofert weist auf den Mechanismus der selbsterfüllenden Prophezeiung hin: Wer schon glaube, aufgrund seines Übergewichts oder seiner Körpergrösse keine Karriere zu machen, der werde laufend Bestätigung für dieses Gefühl finden. Auch wenn es allen Grund gibt, wütend zu sein über die vorschnellen Urteile, die über einen gefällt werden: Wer tatsächlich nicht mehr an sich glaubt, strahlt dies oft auch aus. Da macht man es besser wie der promovierte Chemiker, der sich ein anderes, passenderes Umfeld sucht, idealerweise natürlich bereits in einem früheren Schritt, weil sich längst nicht alle eine weitere Ausbildung leisten können.
Es ist kein Zufall, dass sich in gewissen Berufen Menschen von ihrem äusseren Erscheinungsbild her ähneln. Das zeigt sich bereits im Studium: Geographie-Studierende haben ein anderes Auftreten als jene, die sich auf Wirtschaft oder Recht spezialisieren. Durch die tatsächliche Berufswahl verstärkt sich die Tendenz, sich auch in seinem Äusseren und im Habitus dem Umfeld anzupassen. So sehr „Diversity“ in der heutigen Arbeitswelt hochgehalten wird, so stark kriegen die Ausschluss-Mechanismen jene zu spüren, die nicht dem Erwartungsbild entsprechen.