Flache Hierarchien, weniger Vorgesetzte? Klingt verlockend, kann sich aber als Nachteil erweisen
Von Manuela Specker
Was sich gegenwärtig in vielen Informatikabteilungen vollzieht – eine neue Organisationsform nach dem agilen Prinzip – könnte sich bald auch auf andere Abteilungen ausweiten. Bei Swisscom beispielsweise soll laut „20 Minuten“ bis in zehn Jahren die Hälfte aller Mitarbeitenden in „offeneren“ Strukturen arbeiten.
Dass sich die neue Organisationsform zuerst in Informatikabteilungen durchsetzt, verwundert nicht. Dort drängt sich die sogenannte „Scrum“-Methode geradezu auf, weil Teams auf diese Weise viel flexibler auf Kundenbedürfnisse und auf Veränderungen am Markt reagieren können. Ein konkretes Beispiel: Entwickelten früher Softwareexperten ein Programm und präsentierten sie es am Ende dem Auftraggeber, der dann seine Wünsche einbringen konnte, wird die Softwareentwicklung mit der Scrum-Methode zu einem Projekt, an dem laufend Änderungen angebracht werden. Der Kunde erhält zudem regelmässig Einblick in den Stand der Dinge. Der Clou ist, dass die Teams interdisziplinär zusammengesetzt sind und sich selber organisieren. Ein Projekt wird also nicht mehr von Abteilung zu Abteilung weitergereicht, bis das Endprodukt steht, sondern die Involvierten sind in ständigem Austausch miteinander.
Diese Arbeitsweise bricht natürlich herkömmliche hierarchische Strukturen auf. Auch die Digitalisierung wird den agilen Organisationsformen weiter Schub verleihen. Diese sind aber nicht alleine technologiegetrieben: So wie die Anforderungen an Jobprofile und Qualifikationen gestiegen sind, hat sich auch die Anspruchshaltung der Mitarbeitenden verändert: eigenverantwortlich handeln statt Befehle empfangen, lautet die Devise. In so einem Umfeld können von oben zwar nach wie vor Ziele vorgegeben werden, aber die einzelnen Mitarbeitenden schauen selber, wie sie diese erreichen. Eine Firma, die in alten Befehls- und Kontrollstrukturen verharrt, verliert über kurz oder lang die hellsten Köpfe.
Die Vorstellung von flachen Hierarchien ist bei Mitarbeitenden ausgesprochen populär: Untersuchungen wie jene der Unternehmensberatung Kienbaum ergeben regelmässig, dass eine grosse Mehrheit flache Hierarchien bevorzugt und am liebsten eigenverantwortlich handelt. Für Unternehmen kann sich das auszahlen: Laut Studien der Ökonomin Dalia Marin sind jene Firmen, in denen Entscheide nicht einfach nach dem Hierarchieprinzip gefällt werden, besser gewappnet für die Öffnung der Märkte durch die Globalisierung. So konnte sie unter anderem nachweisen, dass dezentral organisierte Unternehmen ihre Produktqualität verbesserten und den Exportanteil verdreifachten.
Das klingt alles schön und gut. Doch wenn die Voraussetzungen nicht stimmen, können flache Hierarchien auch dazu führen, dass Machtkämpfe erst recht an der Tagesordnung sind, weil jeder um seine Position ringen muss und Verantwortung gegenseitig abgeschoben wird. Im Machtvakuum einer hierarchielosen Struktur etablieren sich leicht Schattenstrukturen, die weder sichtbar noch kontrollierbar sind. „Flache Hierarchien vermitteln den Anschein, jeder könne mitbestimmen, doch das ist ein Irrtum“, so die Erfahrung der Mediatorin Regina Michalik. In exakt diesem Umfeld würden Intrigen besonders gut gedeihen. Der Soziologe Stefan Kühl sieht das ähnlich: Er spricht von „Unsicherheitszonen“ im Unternehmen. Die Folge seien Kämpfe zwischen den rein formal gleich gestellten Mitarbeitenden; ständig müssten sie ihre Position neu aushandeln.
Damit flache Hierarchien funktionieren, braucht es nicht nur ein Arbeitsumfeld, in welchem sich der Einzelne mit dem grossen Ganzen identifiziert, sondern auch ein Unternehmen, das traditionsgemäss auf Eigenverantwortung setzt. Flache Hierarchien lassen sich nicht auf Knopfdruck überstülpen - zumal jene, die tatsächlich in der Führungsverantwortung stehen, oft ungern Macht abgeben. Flache Hierarchien bedingen auch, dass sich der berufliche Aufstieg nicht mehr am Ausmass der Führungsverantwortung orientiert. Die so genannte Fachkarriere, in der die Mitarbeitenden an ihren Aufgaben wachsen können, muss mindestens den gleichen Stellenwert im Unternehmen haben wie die Führungskarriere. Stimmen diese Voraussetzungen, haben flache Hierarchien gute Chancen: Sie sind letztlich Ausdruck einer veränderten Arbeitswelt, in der Wissensarbeiter den Takt angeben und in der sie im Sinne eines Unternehmens mitdenken anstatt antriebslos Dienst nach Vorschrift schieben.
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